Die Familie nach der Familie
Wenn eine Familie durch Trennung und Scheidung auseinanderbricht, ist das ein harter Einschnitt im Leben von Eltern ebenso wie von Kindern.
Die grundsätzliche Hoffnung und Zuversicht auf ein gelingendes Leben in Beziehungen gehen dabei nur selten verloren. Immerhin leben mehr als die Hälfte der Geschiedenen später wieder mit einem Partner zusammen und gründen eine „Familie nach der Familie“. Mit jeder neu eingegangenen Partnerschaft entstehen weitere familiäre Verknüpfungen und Bindungen. Nicht alle Beziehungen sind Liebesbeziehungen, sondern die Beteiligten müssen, oftmals nicht ganz freiwillig, miteinander auskommen.
Patchworkfamilien sind anders als die klassische Kernfamilie. Es sind komplexe Gebilde, in denen zwei oder mehrere Familienkulturen miteinander verbunden werden. Auf dem Weg zu einem „Wir-Gefühl“ müssen Stieffamilien einige Entwicklungsaufgaben bewältigen.
- Das neue Paar muss als Paar zusammenfinden und hat dafür keine „Schonfrist“. Dieses Mal sind sie sofort auch Eltern. Außerdem ist die Einheit zwischen den leiblichen Eltern und ihren Kindern älter und enger als die Partnerschaft selbst. Manche Partner sind noch damit beschäftigt, das Scheitern der „alten“ Beziehung emotional zu verarbeiten.
- Jedes Familienmitglied muss seinen Platz innerhalb der neu zusammengesetzten Familie finden. Gerade die Kinder in Stieffamilien müssen ihre „innere Sicherheit“ zurückgewinnen, denn sie gehören in Zukunft zu mehr als einer Familiengemeinschaft. Sie stellen sich unter anderem die Frage, wie es weitergeht und wie sie den Kontakt zum getrennten leiblichen Elternteil leben können. Der getrennt lebende Elternteil bleibt in der Regel mitverantwortlich für die Kinder.
- Die Mitglieder einer Stieffamilie haben noch keine gemeinsame Geschichte, Traditionen und Werte. Die Familienregeln, Beziehungen und Rollen müssen neu definiert werden und dieser Prozess braucht Zeit. Zwischen den Stiefgeschwistern und zwischen den Kindern und dem Stiefelternteil besteht noch keine gewachsene Beziehung. Da fühlt sich so mancher wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen.
- Neue Bindungen zu der erweiterten Verwandtschaft entstehen. Oft bekommen Kinder in Stieffamilien mit den Eltern von Stiefvater oder Stiefmutter noch ein drittes Großelternpaar hinzu. Nicht immer werden Stieffamilien von der erweiterten Verwandtschaft unterstützt. Offene oder verdeckte Skepsis und Kritik sind mindestens genauso häufig.
Wenn diese (und andere) Entwicklungsaufgaben noch nicht zufriedenstellend für alle Beteiligten bewältigt sind, kann es zu Irritationen und Störungen kommen. Oft sind die Anlässe, mit denen sich Patchworkfamilien an uns wenden, zunächst andere. Da gilt es also, etwas genauer hinzuschauen.
Zwei Beispiele aus der Praxis der Beratung
- Frau Grimm meldet ihren Sohn Max bei uns an. Grund für die Anmeldung seien schulische Probleme. Max ist 15 Jahre alt und klage ständig über Bauchschmerzen, wenn er in die Schule gehen soll. Seine schulischen Leistungen haben zuletzt stark nachgelassen.
Beim Erstgespräch berichtet die Mutter, dass Max einige Jahre mit ihr als alleinerziehender Mutter zusammengelebt hat. Der leibliche Vater hat, wohl aus der Kränkung über die Trennung, den Kontakt zur Mutter und zu Max abgebrochen. Im vergangenen Jahr ist Frau Grimm mit Herrn Andersen zusammengezogen. Mit Moritz, dem 10 Jahre alten Sohn von Herrn Andersen, teilt Max sich jetzt ein Zimmer.
In der Beratung wird deutlich, wie sehr Max unter der Abwesenheit des leiblichen Vaters litt. Das hat sich in der Pubertät noch einmal verstärkt. Was ist mit mir nicht in Ordnung, dass mein Vater kein Interesse an mir hat? In dieser Stimmung ist die Schule für Max nur zweitrangig. Alle gut gemeinten Versuche des Stiefvaters, der „bessere Vater“ für Max zu sein, gehen daher ins Leere. Sie verstärken sogar noch den Konflikt zwischen den Stiefgeschwistern. Behutsam werden in der Beratung die Trauer von Max und die unterschiedlichen Beziehungsebenen besprochen und bearbeitet.
- Boris, 37 Jahre, meldet sich wegen seiner Tochter Maria (14 Jahre). Seit einigen Monaten seien die Zeiten mit ihr stürmisch. Die Pubertät habe sie voll im Griff. Zwischenzeitlich sei sie mal bei der Oma väterlicherseits „untergetaucht“.
Boris und Steffi (37 Jahre) sind beide geschieden, als sie sich 2013 kennenlernen. Steffi hat einen sechsjährigen Sohn und Boris neben Maria noch den elfjährigen Josef. Steffi und Boris gründen eine neue gemeinsame Familie. Vor sechs Monaten kommt ihre gemeinsame Tochter zur Welt. Die Geburt der gemeinsamen Tochter heizt den Konflikt zwischen Maria und ihrer Stiefmutter Steffi heftig an.
Die Rückzugsmöglichkeiten bei der Oma wirken zwar entlastend, andererseits behindern sie auch das Zusammenwachsen der neu zusammengesetzten Familie.
Im Laufe der Beratung entsteht mehr Nähe zwischen Maria und Steffi, weil die Stiefmutter ihren Mann Boris davon überzeugt, wie wichtig es ist, dass Maria wieder regelmäßig Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hat. Auch mit dem Paar wird intensiv gearbeitet. Denn wenn eine Stieffamilie Schwierigkeiten hat, gerät oft die Paarbeziehung in Gefahr.
Stieffamilien sind nicht per se Problemfamilien, aber das Konfliktpotential in ihnen ist durch die Rollen, Beziehungen und Verflechtungen ungleich größer als in der klassischen Kernfamilie – für die Beratung eine Herausforderung. Die Lebensberatung betrachtet es als ihren Auftrag, die „Familie nach der Familie“ zu unterstützen.