Interview:Der Mensch verdrängt


Herr Schüßler, auch manch kirchenferner Mensch fragt angesichts der momentanen Nachrichten: „Wo ist da Gott?“ – Wie kann man die Wellen erklären, in denen diese Frage die Menschen umtreibt?
Die Theodizee-Frage – also die Frage, wie ein allmächtiger und allgütiger Gott mit all dem Leid und Bösen in der Welt zu vereinbaren ist – stellt sich im Grunde genommen jeden Tag. Der Mensch ist jedoch ein großer Verdränger: Tod und Leid lassen wir oft nur dann an uns herankommen, wenn sie sehr nah sind, bei Angehörigen oder bei uns selbst. Wenn das Leid jedoch massiv wird durch Großereignisse, dann dringt es ins Bewusstsein der Gesellschaft ein. Dann kann man sich nicht so abschotten, dass es einen nicht berührt.
Welche historischen Beispiele gibt es dafür?
Das Erdbeben von Lissabon 1755 war ein solches Großereignis – und hat den französischen Autor Voltaire dazu veranlasst, die optimistische Annahme des Philosophen Leibniz zu verwerfen, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Weitere Beispiele wären der Erste Weltkrieg, der Holocaust und der 11. September 2001. Nun hatten wir in Europa über 70 Jahre keinen Krieg und ein funktionierendes Gesundheitssystem – und wir haben gehofft, dass es immer so weitergeht. Doch leider zeigt sich die Unberechenbarkeit der Geschichte: Das brüchige Fundament des Daseins, das in früheren Generationen allgegenwärtig war, bricht wieder auf.
Es gibt auch den Spruch „Not lehrt beten“. Ist das nicht ein Widerspruch zum Zweifel und zum Hadern mit Gott?
In beiden Aspekten steckt ein Quäntchen Wahrheit. Solange das Leben in seinen Bahnen verläuft, wir gesund und glücklich sind, stehen diese Fragen für die meisten Menschen im Hintergrund. Theologisch würde ich es nicht negativ bewerten, wenn die Not das Beten lehrt. Leid und Tod lassen den Menschen an eine Grenze stoßen, an der er scheitert. Dass er sich dadurch religiösen Fragen zuwendet oder neu zuwendet, ist verständlich. Auch gehört das Hadern mit Gott zur Religion dazu, denken Sie etwa an die biblische Geschichte von Hiob. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann der Zweifel aufbricht. Ich würde sagen: Das Leid muss nur groß genug werden, dann geraten auch Menschen in Zweifel, die sonst in einer starken Glaubensgewissheit leben.
Sind Sie zu einer Antwort gelangt: Können Krisen einen Sinn haben?
Der Psychotherapeut und Philosoph Viktor Frankl hat den Begriff der Pathodizee geprägt, also eine Rechtfertigung des Leidens. Demnach kann der Mensch auch in der größten Leidsituation einen Sinn finden. Frankls Buch über seine Erfahrungen im Konzentrationslager, „... trotzdem Ja zum Leben sagen“, war ein Bestseller, weil es offenbar vielen Menschen eine Antwort auf die Sinnfrage gegeben hat. Frankl appelliert an den Menschen, dass er Sinn finden kann. Aber es gibt auch Situationen, die Menschen scheitern und verzweifeln lassen, aus denen sie nicht mehr herausfinden. Krisen können dazu führen, dass man sich auf das Wesentliche beschränkt – auf das, was trägt im Leben. Viele Menschen beschreiben am Lebensende, wie wichtig ihnen Liebe und Nähe sind. In existenziellen Situationen zeigt sich, dass es im Leben nicht nur um Fun geht, sondern auch darum, die Fragen zu beantworten, die das Leben an mich stellt. Zugleich zeigen Studien, dass der Glaube in Krisenzeiten eine Ressource sein kann.
Wie lässt er sich in schwierigen Zeiten stärken?
Mit Frankl lässt sich dazu sagen: Entweder ist der Glaube bedingungslos – oder es ist kein Glaube. Das ist ein starker Anspruch. Konsequent befolgt, kann darin aber die Möglichkeit stecken, aus dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt herauszukommen. Viele Menschen sehen auch im göttlichen Leid und Mitleid einen Trost: Sei es im gekreuzigten Jesus Christus oder sei es in der Vorstellung, dass Gott mit jeder leidenden Kreatur mitfühlt, auch mit einem Wurm. Dies darf aber nicht zu einer Verklärung von Leid führen – das wäre nicht gesund.
Trost zu spenden, ist gerade in schwierigen Zeiten ein heikles Unterfangen – oft fehlen uns die Worte. Haben Sie einen Tipp, wie man Menschen angesichts von Leid begegnen kann?
Das ist eine schwierige Frage. In vielen Situationen kann die innere Einstellung eine Stellschraube sein. Vielen Menschen ist es beispielsweise wichtig, dass sie im Fall einer schweren Erkrankung nicht nur als „der Kranke“ wahrgenommen werden. Das heißt, sie distanzieren sich von der Krankheit und richten sich auf etwas aus, das vielleicht dennoch Sinn geben mag. Letzte Antworten gibt es nicht, zumal, wenn es auf den Tod zugeht. Es gehört aber zum Menschsein dazu, sich der Endlichkeit zu stellen.
Die Kirchen verlieren an Zuspruch. Wie können sie dennoch gerade in Krisenzeiten unterstützend wirken?
Auch für die Kirchen könnten Krisenzeiten ein Hinweis darauf sein, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In der Religion geht es um den Sinn des Seins und um Hoffnung. Die Kirche ist dann relevant, wenn sie Antworten auf existenzielle Fragen und Zweifel hat, wenn sie die Leere füllen kann. Oft rücken jedoch andere Themen in den Vordergrund. Wir leben in einer Welt des Vorwärts; es soll immer vorangehen, aber das hat seine Grenzen. An diesem Punkt können die Kirchen ansetzen.
Weil es sich trotz allem lohnt, für das Gute einzutreten?
Der Begriff des „Trotzdem“ ist theologisch sehr wichtig. Meist sind wir auf Mittel und Zwecke ausgerichtet und vergessen dabei die Vorstellung, dass die Welt nicht alles ist. Wenn die Welt alles wäre, könnten wir zwar immer noch Spaß haben, aber irgendwann hört bekanntlich der Spaß auf. Spätestens wenn wir älter werden und körperliche Leiden auftreten, stellt sich die Frage nach dem Sinn, nach dem Wahren, Schönen und Guten, das für den Menschen mehr Bedeutung hat als die technische Vernunft. Und ohne Zweifel zeigt sich das eigentlich Menschliche gerade nicht im technischen Fortschritt, sondern in der Liebe, die der entschiedenste Akt unserer Freiheit ist.