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Fair streiten

Bin ich ein friedliebender Mensch? Womit müsste ich mich einmal so richtig auseinandersetzen? Wo gehe ich dem Streit aus dem Wege? Kann ich Kompromisse machen? Kenne ich „faulen“ Frieden, trügerische Harmonie, verletzendes Streiten? Fragen, mit denen die Lebensberatung häufig zu tun hat.
Um die Balance zwischen Harmonie und Auseinandersetzung geht es diesmal in der Lebensberatung.
Datum:
14. Juni 2020
Von:
Stanislaus Klemm

Es ist für mich immer faszinierend, einem Künstler bei der Arbeit zuzuschauen und dabei zu beobachten, wie aus einem groben Rohmaterial ein zartes und fast zerbrechliches Kunstwerk entstehen kann. Aus einem mächtigen Marmorblock wird die Figur eines tanzenden Mädchens, aus einem Eichenbalken schält sich langsam die Gestalt einer Madonna, aus einem rauen und noch trüb aussehenden Rohdiamanten entsteht allmählich ein Brillant mit seinem unbeschreiblich schönen Lichtfeuer. Zwischen Rohmaterial und Kunstwerk liegen viele Stationen, liegt oft ein anstrengender Prozess: Da wird abgeschlagen, gemeißelt, gehauen, gehobelt, geschliffen, es fliegen Brocken, Späne, es fließt Schweiß, es entstehen Schwielen. All dies ist hinterher vergessen, es scheint der selbstverständliche Preis dafür zu sein, etwas Schönes sehen zu können. Es fällt dabei auf, dass wir diese Vorgänge auch in unserem alltäglichen Zusammenleben kennen und mit ähnlichen Bildern beschreiben und kommentieren. Ich denke da an Sätze wie: „Man muss sich erst tüchtig zusammenraufen, um sich hinterher gut zu verstehen.“ „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“

Wenn Entgegengesetztes sich zu einer Ganzheit zusammenfügt, spricht man von Harmonie. Das griechische Wort „harmonia“ bedeutet „zusammenfügen“.

Wenn mehrere, ganz unterschiedliche Menschen „an einem Strang ziehen“, wenn sie sich „zusammensetzen“, wenn sie „einen runden Tisch bilden“, ein „gemeinsames Ziel verfolgen“, in „einem Boot sitzen“, wenn „friedliche Koexistenz“ eingeübt und gelebt wird, können sich harmonische Zustände entwickeln. Von harmonischen Beziehungen spricht man überall dort, wo man über alles miteinander reden kann, ohne den gegenseitigen Respekt zu verlieren, wo man den anderen ausreden lässt, ihn nicht überfährt, den anderen jeweils ernst nimmt, nie die Achtung vor dem anderen verliert, wenn man Probleme gemeinsam bewältigt und dem anderen Interesse, Wärme und Mitgefühl entgegenbringt. Aber auch diese Harmonie kann wieder zu einer Sucht werden.

Lösungsversuche statt Vorwürfe

Wenn man bedenkt, dass gelebte Partnerschaft immer wieder eine empfindliche Balance von vielen Gegensätzen darstellt, die nur in einem Gleichgewicht zu einer Harmonie führen, wie zum Beispiel: Ich und Du, Nähe und Distanz, Festhalten und Loslassen, Geduld und Ungeduld, dann ist ein faires Streiten genau dieser Versuch, wieder eine Balance zwischen diesen Polen herzustellen und auch zu halten, sollten sie einmal verloren gehen. Wer sich also mit seinem Partner offen und ehrlich auseinandersetzt, das heißt: „fair streitet“, der bekundet damit sein deutliches Interesse, gemeinsam nach einer Lösung für Probleme zu suchen, die sich im Alltag nun mal einstellen. Es geht also um Lösungsversuche, nicht um Vorwürfe. Wenn man aber dennoch mal einen Vorwurf macht, so sollte er wenigstens eindeutig und genau sein, nicht allgemein.

Fragen sind besser als Unterstellungen

Es soll auch nicht nur bei Klagen bleiben, sondern man sollte gleichzeitig eine vernünftige Möglichkeit zur Verhaltensänderung vorschlagen. Die wichtigsten Punkte vom Partner, von der Partnerin sollte man sich wörtlich wiederholen lassen, damit man sicher ist, dass einem zugehört wurde, oder damit der Andere die Möglichkeit hat, einem zu versichern, dass er verstanden hat, was man möchte.

Man sollte sich nicht an Scheinproblemen („Stellvertreter-Problemen“) aufhalten, sondern zunächst danach suchen, worum es dem Anderen eigentlich, also wirklich geht. Vermeiden sollte man sowohl engstirnige Intoleranz als auch aalglattes Verhalten. Eigenen Gefühlen gegenüber sollte man genau so offen sein, wie denen auf der anderen Seite. Man sollte nie von vornherein wissen wollen, was der Andere denkt, bis man die eigenen Vermutungen auch überprüft hat. Nichts unterstellen, sondern fragen! Nie dem Partner, der Partnerin einen Stempel aufdrücken! Auch Sarkasmus als Streitform ist hinterhältig. Vergangenes sollte auch vergangen, vergessen bleiben. Bei der „Hier-und-jetzt“-Situation bleiben! In einem aufrichtigen Streitgespräch zwischen Intimpartnern kann es nie nur einen Gewinner geben. Entweder gewinnen beide mehr Intimität oder sie verlieren sie beide.

Das richtige Streiten sollte also immer darauf achten, dass Probleme stets konstruktiv gelöst werden sollten, dass es nicht zu einem Machtkampf ausartet, den anderen nicht persönlich herabsetzt oder verletzt. Was beiden Seiten überhaupt nicht guttut, das sind ständige Schuldzuweisungen und Anklagen. Es soll vielmehr immer von beiden Seiten her ein Mittel bleiben, das aktuelle Problem einer Lösung zuzuführen.

„Die Harmonie zwischen zwei Individuen ist niemals gegeben, sie muss immer wieder neu erobert werden“, so Simone de Beauvoir. Innere Beweglichkeit tut hier not. „Im Gleichklang liegt Harmonie, aber auch Stillstand. Im Missklang steckt Disharmonie, aber auch Fortschritt“ so drückt es Andrea Redmann aus. Ruhe, Stille und Harmonie sind die Voraussetzungen dafür, sich erholen zu können. Gelegentlich müssen wir aber zuerst die Stacheln beseitigen, die nach innen drücken, wenn wir nicht den Mut haben, unserem Gegenüber offen und ehrlich zu sagen, was uns missfällt, ärgert, quält oder verletzt.