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Beratung:Schulden sind kein Tabu mehr

In Deutschland explodiert die Nachfrage nach Schuldnerberatungen und bringt die Beratungsstellen ans Limit.
Eine Beraterin im Gespräch mit einer jungen Frau bei der gemeinsamen Schuldnerberatung von Caritas und Diakonie
Datum:
21. Mai 2023
Von:
Andreas Drouve
Schulden sind kein Tabuthema mehr“, sagt Roman Schlag. „Die Hemmschwelle, zur Schuldnerberatung zu gehen, ist nicht mehr so hoch wie früher. Heute ist es allgemein verständlicher, wenn man in eine finanzielle Schieflage gerät und sich sagt: Ich hole mir Hilfe.“ Schlag arbeitet als Referent für Schuldnerberatung beim Caritasverband im Bistum Aachen, ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AGSBV) und kennt die gegenwärtige Problematik bis ins Detail. Nach der Corona-Pandemie, bei der manche Bürger ihre finanziellen Reserven aufgebraucht haben, setzen Inflation, Energiekrise und steigende Wohnungsmietpreise zu.
Arbeitslosigkeit und Beziehungsprobleme wie Trennungen und Scheidungen erschweren zuweilen die Situation. Verbindendes Element ist, dass die Nachfrage nach Schuldnerberatungen allerorten explodiert. Laut einer repräsentativen Umfrage verzeichnen 65 Prozent der deutschlandweiten Schuldnerberatungsstellen im Vergleich zum Jahresbeginn 2022 eine steigende Nachfrage nach Beratung und Unterstützung. Die Beratungsstellen müssen die Menschen verstärkt bei Energie- und Mietschulden, bei der Pfändung von Staatshilfen oder bei der Budgetberatung unterstützen.
Die Kapazitäten sind am Limit
„Die Krise ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, weiß Roman Schlag. „Auf einmal haben auch jene Sorge, die vorher alles im Griff hatten.“ So suchen zunehmend mehr Erwerbstätige Rat und Lösungsstrategien, so Schlag, aber auch Senioren, die plötzlich in die Schuldenfalle geraten. „Altersarmut beschäftigt uns schon lange, bekommt aber nun eine andere Gewichtung“, reflektiert Schuldnerberaterin Maike Cohrs von der Schuldner- und Insolvenzberatung Diakonisches Werk Köln und Region. Die „verstärkte Nutzung von Tafeln und Kleiderkammern“ wertet Roman Schlag als „Seismograph, wie es mit der Armut in Deutschland aussieht“.
Derzeit suchen pro Jahr etwa 600.000 Rat- und Hilfesuchende die 1.400 gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen im Bundesgebiet auf. Zu deren Trägern zählen unter anderem die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonie, Kommunen und Verbraucherzentralen. Das Dilemma: Die gestiegene Nachfrage, bei der sich in naher Zukunft kein Ende abzeichnen dürfte, hält nicht Schritt mit den personellen Kapazitäten.
Die Wartelisten für Termine werden immer länger, und Warten ist bei Geldproblemen nie eine gute Sache.

Roman Schlag

„Die explodierende Nachfrage bringt unsere Beratungsstellen ans Limit“, sagt Schlag und setzt hinzu: „Die Wartelisten für Termine werden immer länger, und Warten ist bei Geldproblemen nie eine gute Sache.“ Schuldnerberaterin Cohrs, die ihre Erfahrungen aus der Praxis vor allem aus dem Rhein-Erft-Kreis schöpft, führt aus: „Im Moment könnten wie viermal so viele Ersttermine ausgeben, aber wir können gar nicht alles bedienen.“
Schnell einen Termin zu bekommen, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Wobei der Terminus ‚schnell‘ relativ ist. „Schnell“, so Schlag, seien tendenziell „ein paar Wochen“. Allenfalls bei akut existenzbedrohenden Entwicklungen seien Ausnahmen „innerhalb von wenigen Tagen“ möglich, um beispielsweise mit Energieversorgern und Vermietern Kontakt aufzunehmen. „Wir lassen niemanden im Regen stehen“, beschwichtigt Schlag.
Der verbreitete Mangel an Fachkräften trifft auch die Schuldnerberatungen, bedauert Ines Moers, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung. Nachwuchs ist dem Vernehmen nach nicht in Sicht, zumal die Anforderungen nicht gerade gering sind. Da geht es nicht nur um die Kenntnisse der Materie, sondern auch um mentales Fingerspitzengefühl.
Psychosoziale Begleitung Teil der Beratung
„Die psychosoziale Begleitung ist Teil der Beratung“, so Roman Schlag. Da müsse man „Druck aus dem Kessel nehmen“ und sich bewusst sein, „Hoffnung und Perspektiven für die Menschen“ zu schaffen – eben auch vor dem Hintergrund, dass die Krise die ganze Familie betreffen kann.
Fatal: manche Betroffene trauen sich nicht mehr, die Post aus Angst vor Forderungen und Inkassoschreiben zu öffnen.
Die Experten animieren zur Prävention: Je früher ein Beratungsgespräch, desto besser. „Es wäre gut, wenn die Menschen frühzeitig kämen“, so Schuldnerberaterin Cohrs. Roman Schlag drückt das bildhaft so aus: „Ich bin noch nicht in den Brunnen gefallen, aber sitze am Rand, kippele ein bisschen und frage: Könnt ihr mir helfen, dass ich nicht reinfalle?“ Cohrs: „Es gibt Menschen, die mit uns den Haushalt durchgehen und sich fragen: Wo gibt es Einsparmöglichkeiten? Wo kann ich etwas nach hinten schieben?“ Vielleicht, so Cohrs, gebe es noch Sozialleistungen, die beantragt werden können.
Schuldenfallen lauern überall
Unabhängig davon lauern Schuldenfallen überall. Beraterin Cohrs prangert an: „Wir stellen seit einigen Jahren fest, dass die Aufnahme von Schulden in bestimmten Gruppen gesellschaftlich immer stärker akzeptiert und wirtschaftlich gewollt ist – sei es bei der Finanzierung des Autos, der Wohnungseinrichtung oder des Smartphones. Das liegt nicht zuletzt an den niedrigen Zinsen in der Vergangenheit.“ Ratenkredite und Angebote wie ‚Heute kaufen, morgen bezahlen‘, die insbesondere seit der Pandemie durch Online-Händler intensiv beworben werden, führen dazu, dass junge Erwachsene bereits in frühen Jahren Zahlungsverpflichtungen eingehen, die ihnen später über den Kopf wachsen können. „Aus vorhersehbar kontrollierter Verschuldung wird schnell Überschuldung, insbesondere bei Menschen mit geringem Einkommen“, erläutert Roman Schlag.
Für die Zukunft hat Ines Moers von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung einen besonderen Wunsch: „Es muss ein bundeseinheitliches Recht auf eine kostenlose Schuldnerberatung geben.“ Die Bedingungen, so Moers, seien bislang nicht überall gleich.