Heute leben, nicht erst morgen
Wer in der saarländischen Stadt Saarlouis durch das Postgässchen schlendert, der trifft auf einen „Lebensbrunnen“. Er ist so etwas wie eine in Bronze gegossene Weisheit; erzählt von der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit unseres Lebens, das uns beständig, unaufhörlich und unaufhaltsam durch die Hände läuft, fließt, rieselt und rinnt. Der „Lebensbrunnen“ zeigt uns über eine kleine Mauerstrecke hinweg auf einen einzigen Blick das ganze Leben: Kind, erwachsene Frau, alter Mann. Alle schöpfen sie aus dem „Wasser des Lebens“, das ihnen wieder aus den Fingern rinnt.
Der Brunnen erinnert an eine alte Lebensweisheit: „Alles fließt“ (Heraklit). Mir fällt dabei immer eine andere biblische Weisheit ein, wenn ich lese: „Unser Leben geht vorüber, wie die Spur einer Wolke und löst sich auf wie ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht und von ihrer Wärme zu Boden gedrückt wird.“ (Weisheit 2, 4.) Ja, unser Leben ist deshalb so unendlich kostbar, weil es uns so schnell und so vergänglich erscheint. Bereits der römische Dichter Ovid beklagte diese Tatsache, wenn er meint: „Heimlich und hastig entrinnt uns unbemerkt flüchtig das Leben – schneller ist nichts als die Jahre. Wir aber dachten, es wäre noch soviel Zeit.“
Schnelllebigkeit und viele Ablenkungen
Unsere Schnelllebigkeit bringt es leider immer wieder mit sich, dass wir allzu schnell und allzu leicht von dem Vielen abgelenkt werden, was sich da immer wieder um uns herum ereignet. Oft führt das dazu, dass wir die entscheidenden Dinge oft zu spät oder gar nicht mehr bemerken, weil wir uns durch Unwichtiges all zu leicht gefangen nehmen lassen.
Eine bedauerliche Situation: Da zeigt sich uns eine große Chance und wir haben entweder nicht gehandelt, vielleicht zu viel überlegt, zu viel geredet, oder wir haben zu früh oder zu spät reagiert, jedenfalls nicht zur rechten Zeit.
Wir haben die Gelegenheit nicht „beim Schopf“ gepackt. Diese Redensart geht auf den griechischen Gott „Kairos“ (Gott des rechten Zeitpunktes) zurück, der in der bildlichen Darstellung eine mächtige Haarlocke über seiner Stirn trägt und am Hinterkopf eine Glatze aufweist.
Die Gelegenheit beim Schopf packen
Im übertragenen Sinn bedeutet diese Darstellung, dass man diesen Gott „Kairos“ (die günstige Gelegenheit, den rechten Zeitpunkt) sofort und direkt an seinem vorderen Haarschopf ergreifen und festhalten sollte. Verpasst man diese Gelegenheit, so lässt sie sich nicht mehr einfangen und lässt uns nur noch an seiner Glatze abrutschen. Eine Chance wäre dann vertan. Häufig stoßen wir im Alltag auf Situationen, in denen es gilt, zu handeln, und zwar sofort, ganz bewusst und mit ganzer Kraft.
Zum Beispiel rät die Psychotherapeutin Virginia Satyr:
- dass ich all das sage, was ich wirklich in mir fühle und denke und nicht das, was ich immer sagen sollte
- dass ich mich frage, was ich wirklich möchte, anstatt immer nur auf Erlaubnis zu warten
- dass ich das auch einmal tun soll, was mich tief im Innern reizt, anstatt immer nur das zu tun, was im Rahmen unserer Sicherheit liegt.
Wir sollten uns überhaupt mehr Zeit nehmen zu denken, zu lesen, zu ruhen, zu träumen, zu lachen, zärtlich und freundlich zu sein. Das Meiste und Wichtigste in unserem Leben können wir nicht „nachholen“. Wir sollten das nützen, was uns heute gegeben ist, und nicht auf das hoffen, was uns morgen vielleicht erwartet.
Was wohl zwischen unseren Fingern zerrinnen darf, das sind die vielen unnützen Illusionen, die unnötigen Ängste, die unerfüllbaren Wünsche und der unmäßige Ehrgeiz. Das lässt die wahren Träume erst wachsen. „Lass unbeirrt den äußeren Schein zerrinnen! Das Licht, das niemals irre führt, ist Licht von innen.“ (Julius Rodenberg).
Und plötzlich geht eine Tür auf
„Du steigst niemals in den gleichen Fluss“, heißt es in einem Sprichwort. Deshalb ist kein einziger Tag genau so wie der andere, auch wenn uns das oft so vorkommen mag. „Ich weiß“, sagte ich einmal einer depressiven Frau, „dass Sie sehr krank sind, aber glauben Sie mir, kein Mensch auf der Welt ist immer, an jedem Tag, zu jeder Stunde in gleicher Weise krank. Auch eine Krankheit verändert immer wieder ihr Gesicht, zum Positiven oder Negativen hin. Es mag Tage geben, da meint man, es geht gar nichts! Und doch geht plötzlich irgendwo eine kleine Türe auf, irgend etwas Neues, noch nicht Erlebtes kommt dann auf Sie zu, Sie haben den Eindruck, irgend jemand hat gewissermaßen die Karten wieder neu gemischt. Gut, wenn man diesen Zeitpunkt nicht verpasst!“ „Wenn dem so ist“, fuhr die Frau fort, „mache ich mir auch keine großen Vorwürfe mehr, wenn ich heute nichts, wirklich nichts auf die Reihe bekomme. Morgen kann es wieder ganz anders, wesentlich anders oder irgendwie anders sein. Ich steck da nicht drin. Ich versuche halt heute zu leben, wirklich nur heute!“
Das Bild vom „Fluss des Lebens“ (dem Lebenslauf) kann uns vieles anschaulich machen, vor allem in der Analyse einer Problemgeschichte, aber auch bei der Analyse der Beziehungsebene zwischen Partnern. Gerade hier gilt es zu beachten, was da gerade „abläuft“.
So wie ein Fluss die richtige Temperatur braucht, um zu fließen (nicht zu kalt, sonst ist alles vereist, nicht zu warm, weil dann der Fluss biologisch umkippt), genauso gilt es immer wieder, die Temperatur zu spüren und zu beachten, die zwischen den Partnern herrscht. Wo gibt es hier „Stromschnellen“, wo läuft ein Gespräch aus dem „Ruder“, wo braucht es eine Ruhephase, damit sich vieles wieder „setzen“ und „klären“ kann, was offensichtlich zu sehr „aufgewirbelt“ wurde? Was ist die Quelle (Motivation) eines Gesprächs, worum geht es? Wohin soll so ein Gespräch münden, welches Ziel soll es haben?
Die praktische Anwendung dieses Symbols „Fluss“ kann uns in der Reflexion einer Partnerschaft vieles bewusst machen und viele hilfreiche Ansätze liefern.