Warum Christ sein:Kretschmann und das Gebet

Der baden–württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kann die Personalpolitik der katholischen Kirche nicht nachvollziehen. „Wenn wir im Staatsministerium oder in der grünen Partei keinen Nachwuchs mehr bekämen, dann würden wir Tag und Nacht überlegen, wie wir das ändern können“, betont er in dem Buch „Warum heute Christ*in sein?“ (S. Hirzel Verlag, ISBN 978–3–7776–3576–7, 208 Seiten, 24 Euro).
Doch in der Kirche rege sich scheinbar niemand über den großen Priestermangel wirklich auf. „In so einer Situation zu sagen ‚lieber keine Priester als Priester ohne Zölibat oder die Weihe von Frauen‘, das ist mir unbegreiflich“, so Kretschmann.
Wenn ich als Politiker scheitere – und damit muss man rechnen –, dann scheitere ich nicht vor Gott.
Winfried Kretschmann
Außerdem habe der Vatikan bis heute nicht auf die Beschlüsse der Würzburger Synode aus dem Jahr 1974 reagiert. Damals hatten Delegierte der westdeutschen Bistümer über die Umsetzung der Reformbeschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) beraten. „So eine Gesprächsverweigerung geht nicht mehr in der modernen Zeit“, sagt Kretschmann. Da verwechsle der Vatikan Hierarchie mit Monarchie. Ein Monarch müsse sich nicht rechtfertigen, aber die Hierarchie müsse jederzeit antworten, erklärte der Ministerpräsident.
Wiederannäherung nach Kirchenaustritt
Der bekennende Katholik beschreibt in dem Sammelband seine Beziehung zum Christentum anhand seines Lebenslaufs. Als junger Erwachsener war er für 15 Jahre aus der Kirche ausgetreten, nachdem er einen Teil seiner Schulzeit in einem autoritären katholischen Internat verbracht hatte. Doch seine Verbindung zur Kirche sei nie ganz abgebrochen: „Es gab bei mir immer die Liebe zur Kirchenmusik. Das ist schon eine starke Brücke. Insofern brauchte es kein Erweckungserlebnis.“ Die Wiederannäherung sei vielmehr ein Prozess gewesen.
Menschwerdung Gottes ein epochales Ereignis
Eine besondere Rolle habe für ihn der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff gespielt. Der Kerngedanke von dessen „Kleiner Sakramentenlehre“ sei: „Gott ist in den Zeichen lebendig und im Leben ganz normaler Menschen.“ Das habe ihn sehr beeindruckt.
„Die Menschwerdung Gottes ist ein epochales Ereignis. Mit ihr ist Gott in einer radikalen Form Wirklichkeit geworden. Deshalb bin ich Christ“, erklärte Kretschmann. Dieses Verwurzeltsein gebe ihm vor allem im politischen Leben Stärke, weil ihn der Glaube befreie: „Wenn ich als Politiker scheitere – und damit muss man rechnen –, dann scheitere ich nicht vor Gott.“ Jenseits seiner Leistung sei er vor Gott angenommen. „Das ist das Befreiende.“
Von Dank- bis Beschwerdegebet
Kretschmann schildert, für ihn habe der Glaube einen tatsächlichen Mehrwert: Religiöse Menschen gälten als zufriedener, was auch etwas mit den Gottesdiensten zu tun habe: „Diese sind davon geprägt, dass wir Gott danken. Danken macht zufriedener. Man nimmt wahr, was einem alles geschenkt worden ist.“ Doch er kenne nicht nur das Dankgebet: Generell sei er zwar eher ein „Gemeinschaftsbeter“, aber in besonders krassen Situationen, in denen es besonders hart auf hart gegeneinander gehe, „schicke ich schon einmal ein Beschwerdegebet“.
Ansonsten beunruhige ihn die Kirchenkrise nicht weiter, erklärte Kretschmann. „Solange es wenigstens eine kräftige und lebendige Minderheit gibt, die öffentlich für die Werte des Evangeliums eintritt und diese lebt, muss einem nicht bange sein.“ Das Christentum wirke in die Gesellschaft hinein.
Allerdings könne diese „christliche Imprägnierung“ verschwinden. Der Ministerpräsident mahnt: „Weder die Demokratie noch ihre Werte haben einen säkularen Ewigkeitscharakter. Damit sie lebendig bleiben, muss man etwas tun.“