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Seelische Not:Jugend im Dauerkrisen-Modus

Wut. Frust. Rückzug: Junge Menschen sind heute Studien zufolge stark belastet. Manche Signale können auf tiefere seelische Not hindeuten. Eltern sind in solchen Momenten nicht machtlos, betonen Fachleute.
Kind sitzt depremiert am Boden.
Datum:
21. Sept. 2025
Von:
Paula Konersmann

Philipp kommt kaum noch aus seinem Zimmer, spielt nicht mehr mit seinem kleinen Bruder, scheint ständig mies gelaunt zu sein. Nele isst selten mit der Familie, tippt ständig auf dem Handy und reagiert mit hochgezogenen Augenbrauen, wenn die Eltern sie nach den Hausaufgaben fragen. In beiden Fällen fragen sich Mutter und Vater: Ist das noch Pubertät? Oder droht eine ernsthafte Krise?

Kinder sind heute mehr Gefahren und Versuchungen ausgesetzt als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Haim Omer und Anat Brunstein-Klomek

Melanie Hubermann hat täglich mit solchen Situationen zu tun. Die Familientherapeutin nennt einen Schlüssel, um an die „eigentlichen Themen“ zu kommen. Denn Jugendliche sagten nicht: „Ich fühle mich alleine, weil ich keine Freunde habe“ oder: „Die Schule macht den Alltag kompliziert“. Eher fielen drastische Aussagen wie: „Ich hasse mein Leben.“ Nicht abbügeln, sondern nachfragen, laute die Devise für Eltern, zum Beispiel: „Das klingt kompliziert, was könnten wir denn dagegen tun?“ Das sei ein erster Schritt gegen Ohnmachtsgefühle – auf beiden Seiten.

Konzept der "Neuen Autorität"

Schon während der Corona-Zeit habe sich abgezeichnet, dass es Folgen haben werde, Kindern ihre Entwicklungsräume zu nehmen, sagt Hubermann. Doch auch die Eltern stünden etwa durch finanzielle Nöte oder Sorge angesichts des neuerlichen Kriegs in Europa „nicht mehr fest in ihrem Fundament“, so die Expertin. Dabei bräuchten Kinder und Jugendliche ihre Familie als sicheren Hafen, der eine klare Struktur habe –mit den Eltern als „Leuchtturm“, der Orientierung biete. Der Nachwuchs, das sind in diesem Bild die Boote, die im Hafen seetüchtig gemacht werden und sich am Leuchtturm orientieren können, wenn sie schließlich selbst in See stechen – vor allem, wenn es dort einmal rau zugeht.

So erklärt Hubermann die „Neue Autorität“ – ein Konzept, das nichts mit überkommenen Erziehungsmethoden alter Schule zu tun hat. Neu sei daran vor allem, „dass auch die Autoritätsfiguren im Blick sind, die in ihrer Präsenz gestärkt werden sollen, um ihren Kindern Sicherheit zu vermitteln“.

Entwickelt hat dieses Modell der israelische Psychologe Haim Omer. Von ihm ist soeben ein Buch erschienen, das suizidgefährdete Jugendliche in den Mittelpunkt stellt. „Kinder sind heute mehr Gefahren und Versuchungen ausgesetzt als je zuvor in der Geschichte der Menschheit“, schreiben Omer und seine Kollegin Anat Brunstein-Klomek: Dies reiche von purer Reizüberflutung über aggressive Werbung und Extrem-Diäten bis hin zu konkreten Suizid-Ratschlägen, die im Netz zu finden sind.

Omer und Brunstein-Klomek vergleichen diese Gefahren mit einer „Flutwelle“. Zugleich habe sich der Einfluss von Eltern und Lehrkräften „erheblich reduziert“. Verbote führen nach Einschätzung von Hubermann jedoch „zu nichts, außer zum Beziehungsabbruch“. Wer sein Kind verstehen wolle, müsse vielmehr nachfragen, neugierig sein, sich erklären lassen, was an einem neuen Trend so reizvoll ist oder warum die Schule gerade gar keinen Spaß macht.

Info

Haim Omer, Suizidgefährdete Jugendliche unterstützen – ein Leitfaden für Familie, Schule und soziales Umfeld, Vandenhoeck und Ruprecht, ISBN: 978-3-525-40872-8, 248 Seiten, Preis: 28 Euro.