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Leben durch Sterben

Foto: In der Mitte des Bildes ist eine Mauer. Auf der linken Seite der Mauer sitzt ein junger Mann mit dem Rücken zur Wand, auf der rechten Seite eine junge Frau, ebenfalls mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
Empfänger und Spender bleiben anonym. Über die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die die Organspende in Deutschland koordiniert, können aber Dankesbriefe und Informationen zum Gesundheitszustand der Empfänger an die Familie des Verstorbenen vermittelt werden.
Foto: Imago

Organtransplantationen sind medizinisch mittlerweile Routine – menschlich nicht. Über eine Therapie, die Menschen an der Schnittstelle von Leben und Tod verbindet.

Von Sabrina Notka

„Nach dem Tod noch helfen? Das ist eine gute Sache.“ Bei Umfragen spricht sich ein Großteil der Bevölkerung für Organspende aus. Auch die Deutsche Bischofskonferenz bewertet sie als ethisch verantwortlich und würdigt sie als einen besonderen Akt der Solidarität gegenüber Schwerkranken und Behinderten. Eigentlich ist alles klar und einfach – eigentlich.

Doch bei einem Bereich, wo sich Leben und Tod so stark berühren, ist „einfach“ ein relativer Begriff. Rund 12 000 Patienten warten in Deutschland auf ein rettendes Organ. Umgerechnet sterben täglich drei Menschen auf der Warteliste, weil ihnen nicht rechtzeitig geholfen werden konnte – denn es gibt zu wenig Organspender. Was in den Umfrageergebnissen so klar aussieht, bröckelt, wenn es ernst wird. Nämlich dann, wenn es darum geht, auf einem Ausweis schriftlich zuzustimmen, oder diese Entscheidung seinen Angehörigen mitzuteilen.

Wir finden Organspenden richtig, schrecken aber trotzdem davor zurück. Die Ethnologin Dr. Vera Kalitzkus ist diesem Widerspruch auf den Grund gegangen. Für sie liegt das eigentliche Problem tiefer: „Es ist ja fast paradox, dass eine der modernsten Richtungen in der Medizin, die mit großen Fortschritten zur Lebensrettung von Menschen beiträgt, dies nur kann, indem sie sich direkt vom Tod abhängig macht – vom Sterben anderer Menschen.“ Beide Seiten kämen nicht darum herum, sich mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen. Und das sei die große Herausforderung – menschlich gesehen.

Eine Therapie, die über den Tod führt

Hier entfalten sich zwiespältige Gefühle. Renate Focke aus Bremen beispielsweise hat der Organentnahme bei ihrem verunglückten, hirntoten Sohn zugestimmt. Es war eine Entscheidung, die kranken Menschen das Leben gerettet hat. Trotzdem würde sie sie rückgängig machen, wenn sie könnte. Es ist ein Gedanke, der etwas Verbotenes hat. Doch sie quält das Schuldgefühl, ihr Kind im Sterben im Stich gelassen zu haben. Renate Focke zweifelt an einer Medizin, die gegen ihr Menschenbild verstoßen hat – ihre Vorstellung von Abschiednahme und einem würdigen Tod.

Sie durchlebt es immer wieder, durchdenkt es von allen Standpunkten, ist sich darüber bewusst, dass es auf der anderen Seite Menschen gibt, die auf eine letzte Rettung hoffen. Trotzdem kommt sie für sich zu dem Schluss: „Ich werde einer Organentnahme bei keinem meiner Angehörigen mehr zustimmen und will selbst auch kein fremdes Organ haben.“

Klar und einfach scheint bei einer Therapie, die über den Tod führt, wenig zu sein. Ein Tod, der noch dazu schwer zu begreifen ist: der Hirntod.

Der Kopf begreift, der Bauch zweifelt

Foto: Eine Ärztin betrachtet Röntgenaufnahmen.
Zwei Ärzte stellen den Hirntod fest.
Foto: Imago

Beispielsweise durch einen schweren Unfall kann es sein, dass das Gehirn nicht mehr durchblutet wird und die Zellen absterben. Ist dadurch nachweislich die Funktion des gesamten Gehirns ausgefallen, wird dies Hirntod genannt. Dann folgt binnen kurzer Zeit auch der Herztod. Es sei denn, das Herz-Kreislauf-System wird durch Maschinen noch eine Weile künstlich aufrechterhalten, wie es für eine Organentnahme nötig ist. Der Hirntod wird von zwei dafür qualifizierten Ärzten festgestellt, die mit der Transplantation nichts zu tun haben. Anhand umfangreicher Tests wird geprüft, ob das ganze Gehirn unheilbar geschädigt ist.

Anne-Bärbel Blaes-Eise ist Koordinatorin bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Sie betreut Familien auf der Intensivstation, die von dem Tod eines geliebten Menschen hören, dessen Brust sich hebt und senkt, der warm ist und wie ein Schlafender aussieht. „Der Hirntod verwirrt uns so, weil er ohne den Blick auf die medizinischen Befunde nicht sichtbar ist. Da helfen nur Dinge, die wir wahrnehmen können: bildgebende Verfahren, die zeigen, dass da kein Tropfen Blut mehr ins Gehirn kommt. Oder ich sehe zusammen mit den Angehörigen in die Augen des Patienten – dann sagen viele: Ja, der Blick ist gebrochen.“

Ein Hirntoter wird nie wieder aufwachen, nie wieder sein Bewusstsein als Person erlangen. Die strittige Frage ist allerdings: Handelt es sich deshalb schon um einen Toten oder um einen Menschen in der letzten Sterbephase? Renate Focke hat hier ihre Probleme: „Unser Leben ist ein Bogen bis zum Ende. In diesen Prozess wird durch eine Organspende eingegriffen; es ist mehr als eine Spende – es ist ein Opfer.“ Man könne doch nicht sagen: „Weil dieser Mensch ohnehin gestorben wäre, erklären wir ihn schon vorher für tot.“

Der katholische Theologe Professor Manfred Balkenohl findet es „fragwürdig, ja unstatthaft“, den Menschen auf messbare Hirnströme zu reduzieren, weil dann „der ganze Mensch als Geist-Seele-Leib-Einheit nicht mehr wahrgenommen“ werde. Und Renate Focke fragt: „Was ist das denn für ein Tod, bei dem 97 Prozent des Körpers noch leben?“

Keine Grundlage mehr für den Geist

Es ist eine Frage der Sichtweise. Blaes-Eise und mit ihr ein Großteil der Mediziner und Ethiker gewichtet hier anders: „Zwar ist mit dem Gehirn nur ein kleiner Teil der Gesamtzellzahl wirklich tot, aber es ist der wichtigste Teil – denn daran sind unser Bewusstsein und unser Schmerzempfinden gekoppelt.“

Auch die Kirchen haben diese Definition akzeptiert und stützen sie. In einer Erklärung der Bischofskonferenz und des Rats der Evangelischen Kirche Deutschlands von 1990 heißt es: „Der Hirntod bedeutet ebenso wie der Herztod den Tod des Menschen. Mit dem Hirntod fehlt dem Menschen die unersetzbare und nicht wiederzuerlangende körperliche Grundlage für sein geistiges Dasein in dieser Welt.“

Über Zweifel und Vertrauen

Vera Kalitzkus merkt hier an: „Was wissen wir denn tatsächlich, wie es ist? Auch wie und wann sich die Seele vom Körper löst?“ Fragen, die die Medizin gar nicht stellt, weil sie außerhalb ihres Kompetenzbereichs liegen. Doch Kalitzkus weiß, dass „viele da ihre Probleme haben“.

Marlene Probst aus Bruch bei Wittlich kennt diese schwierigen Fragen, denn sie hat sie sich selbst stellen müssen. Ihr Mann erlitt im Alter von 49 Jahren einen Schlaganfall. Im Krankenhaus die erschütternde Diagnose: Hirntod. „Wir hatten schon lange vorher über dieses Thema gesprochen. Ich wusste, dass er seine Organe spenden wollte – für ihn als Christ ein Werk der Nächstenliebe.“ Die gläubige Katholikin konnte den Wunsch ihres Mannes mit allen Konsequenzen mittragen. Sie hat ein Grundvertrauen: „Die Seele? Ich bin sicher, dass mein Mann jetzt da oben ist.“

Das Herz schlägt weiter – ein Trost in der Trauer?

Ein bewusstes Ja zur Organspende – für Renate Focke bedeutet das, dass jemand unter Abwägung aller Aspekte seine Angehörigen fragt: „Könnt Ihr das ertragen und mittragen, wenn ich meine Organe spende? Das bedeutet: Ich werde bei einer Operation zu Ende sterben, ihr könnt nicht dabei sein, mich nicht begleiten, aber ich halte es für wichtig.“ Das wäre der einzige, ehrliche Weg, der weiterführen könne.

Begleiten bis zum Schluss – auch Anne-Bärbel Blaes-Eise von der DSO kennt dieses menschliche Bedürfnis, das bei einer Organentnahme nicht erfüllt werden kann. Sie versucht die Angehörigen in dieser Situation aufzufangen. Übergangsrituale sollen über die Phase der fehlenden Nähe im Operationssaal hinweghelfen. Die Familie könne ihrem Angehörigen etwas mitgeben: ein gemaltes Bild von den Enkeln, ein religiöses Symbol, ein Kuscheltier.

Wenn den Menschen klar geworden sei, dass ihr Angehöriger schon gegangen ist, sei es für sie vielleicht gar nicht mehr so entscheidend, ob sie dabei sind, wenn das Herz stehenbleibt. „Und es steht ja vielleicht gar nicht, es schlägt irgendwo weiter“, sagt Blaes-Eise. Für viele Familien sei das im Trauerprozess ein großer Trost.

So hat es auch Marlene Probst empfunden. Die Nachrichten von den geglückten Transplantationen waren für sie „Meilensteine auf dem Weg durch die Trauer“. Im Dunkeln nahm sie sie als Zeichen des Lebens wahr, die zeigten: Der Tod war nicht sinnlos. Heute engagiert sie sich bei der DSO für andere Angehörige, möchte sie unterstützen.

„Ohne Spender würde dieses Kind nicht leben“

Gerne erinnert sie sich an ein Erlebnis am Tag der Organspende, an dem sie ein junges Pärchen mit seinem Baby kennenlernte. Der Mann war lebertransplantiert, das Kind wäre ohne die lebensrettende Operation des Vaters nie zur Welt gekommen. „Ich schaute in den Kinderwagen, und das Baby lächelte mich an. Die Mutter umarmte mich. Wir verstanden uns ohne Worte.“ Renate Focke dagegen bleibt mit einem bitteren Gefühl zurück: „Trost habe ich nicht gefunden. Mein Kind lebt in diesen Menschen nicht weiter. Die Organspende hat meinen Schmerz vergrößert.“

Nur eine falsche Entscheidung – gar keine

Organspende – hier tut sich ein Grenzbereich auf, den es ohne die Intensivmedizin nicht gäbe. Ein Grenzbereich, der Menschen in ihren verwurzelten Vorstellungen vom Tod erschüttert und Fragen nach dem Menschenbild aufwirft. Aber eben auch ein Grenzbereich, der die Chance bietet, Schwerkranken das Leben zu retten oder zu erleichtern.

Karina Matheis ist Krankenschwester im Trierer Mutterhaus der Borromäerinnen. Sie hat viele Jahre auf der Transplantationsstation der Berliner Charité gearbeitet und erinnert sich an einen Patienten, der sich in der ungewissen Wartezeit auf ein Organ ein Schild geschrieben hat: „Wer ein gutes Herz hat, nimmt es nicht mit in den Himmel.“

Für sie steht fest: „Als Christ sollte man sich darüber Gedanken machen. Man darf niemanden verurteilen, wenn er sagt, dass er seine Organe nicht spenden möchte oder das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Aber wenn man sich klar entscheidet, egal wie, ist das auf jeden Fall sehr hilfreich.“

» Lesen Sie mehr dazu in den Beiträgen:

» Lesen Sie in der Printausgabe des „Paulinus“ dazu „Das geschenkte Herz“.
Mit 22 schmiedet ein Mensch Pläne. Mit 22 scheint alles möglich zu sein. Mit 22 sterben? Christian Klesen aus Scheuern im Saarland stand vor 15 Jahren an der Schwelle zum Tod. Heute lebt er mit einem Spenderherzen.
Beitrag von Sabrina Notka
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