Vortrag:Zäune halten nicht von Flucht ab
Wittlich. „Wie weit ist unser Herz für Migranten?“. Diese und viele andere Fragen muss sich eine Gesellschaft stellen, wenn – wie derzeit – weltweit 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Als 2015 ein Foto von einem angekommenen Migranten und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die Medien ging, war das ein Zeichen der Willkommenskultur. Inzwischen habe sich die Debatte um das Thema Migration auf die innenpolitischen Bereiche Sicherheit und Identität konzentriert, meinte Jonas Wipfler, Leiter des Berliner Misereor-Büros. Auf Einladung des Fördervereins sprach er in der Autobahnkirche St. Paul.
Humanität, Wirtschaft und Demographie, die ebenfalls eng mit der Migrationsthematik verbunden sind, würden überschattet. „Die Diskussion gleitet von der Humanität ab“, stellte Wipfler fest. Dabei stelle sich die Frage, wie man mit Migration umgehen wolle. Sie sei ein natürliches Phänomen. Es habe schon immer Flucht und Vertreibung gegeben, und die Frage für die Politik sei, wie man dem begegnen wolle. „Man kann das steuern, aber nicht abstellen“, so der Experte.
Krieg, Gewalt oder Klimawandel als Gründe
Gründe für Flucht seien oft Krieg und Gewalt oder der Klimawandel, erklärte der Referent. „Die meisten Geflüchteten sind in ihren eigenen Ländern unterwegs. Innerhalb Afrikas gibt es viel Migration.“ Von Europa haben die Menschen in Afrika ein Bild von Sicherheit, das Europa aber nicht nutzen könne. Die Formel, man bräuchte nur genug Geld, um die Migrationszahlen zu verringern, gehe nicht auf. Die Ärmsten blieben nämlich in ihren Regionen.
Viele vergraben ihre religiösen Schriften, egal ob es die Bibel oder der Koran ist, damit sie nicht beschädigt werden.
Jonas Wipfler, Misereor
Bei seinen Aufenthalten in Afrika habe er erlebt, dass die Religion für die Personen auf der Flucht sehr wichtig ist, schilderte Wipfler. „Viele vergraben ihre religiösen Schriften, egal ob es die Bibel oder der Koran ist, damit sie nicht beschädigt werden. Sie sagen mir: ,Man kann uns vieles nehmen, aber nicht unseren Glauben.‘“
Hohe Zäune als Herausfoderung
Die Abschreckung durch Zäune oder vermehrte Sicherheitsvorkehrungen würden die Menschen nicht davon abhalten, den Weg nach Europa zu versuchen. Im Gegenteil: „Je höher die Zäune, desto fantastischer müsse die Welt dahinter sein, ist die Meinung.“ Ein Beispiel dafür habe er erlebt in Nador, einer Stadt in Marokko an der Grenze zur spanischen Enklave Melilla: „Ein Mann wollte über den Zaun nach Melilla. Er hat es nicht geschafft und sich dabei beide Beine gebrochen. Aufzugeben war für ihn aber keine Option. Er meinte nur ,Es war halt nicht mein Tag.‘“ Die Partner von Misereor versorgten dort Menschen medizinisch, erklärte der Redner.
Nach dem Vortrag hatten die Zuhörerinnen und Zuhörer Gelegenheit, Fragen zu stellen. Dabei ging es unter anderem darum, dass Migranten kein Bargeld mehr bekommen, sondern nur mit Karte bezahlen sollen. Jonas Wipfler empfindet dies als Einschränkung der Selbstbestimmung der Migranten. Die interkonfessionelle Arbeit, der Dialog mit afrikanischen Ländern und die Nachwuchsarbeit von Misereor waren weitere Gesprächsthemen.