Demenzsensible Gottesdienste:Altbekanntes gibt Sicherheit
Die ersten Reihen der Kirche sind lückenlos gefüllt. Rollatoren stehen im Gang. Vor der ersten Kirchenbankreihe sitzen Menschen in Rollstühlen. Die Kirchenglocken läuten. Jemand wird durch den Mittelgang zum Platz begleitet. Viele der Gottesdienstbesucher haben schon eine Menge Lebenserfahrung gesammelt. Die Blicke sind Richtung Altar gerichtet, als die Orgel erklingt und den Kirchenlied-Klassiker „Großer Gott, wir loben dich“ anspielt. Eine Dame singt, ein wenig schief, bereits beim Orgel-Intro kräftig mit.
Hier in der Aachener Kirche Sankt Jakob schaut sie dafür niemand schräg an. Denn besonders eingeladen sind zu diesem Gottesdienst Menschen mit Demenz und deren Begleitungen. Seit 15 Jahren bereitet Gemeindereferentin Caroline Braun zusammen mit einem Team für die katholische Kirche in Aachen solche Gottesdienste vor. „Ein Angebot für Menschen, die sich in ihrer Heimatpfarrei vielleicht nicht mehr wohlfühlen, weil sie merken: ,Die Leute gucken mich komisch an‘“, so die Seelsorgerin.
Menschen mit demenziellen Veränderungen verhalten sich nicht immer, wie die Gesellschaft es für normal hält. Die Krankheit bringt oft Verhaltensänderungen und mit sich. Bei Demenz kommt es zum Verlust von Fähigkeiten des Gedächtnisses, des Denkens oder anderen Leistungsbereichen des Gehirns. Sprechen fällt manchen schwer. „Der Herr sei mit euch“, sagt der Pfarrer – so der Beginn jedes katholischen Gottesdienstes – „und mit deinem Geiste“ antwortet die Gemeinde. Bei aller Vergesslichkeit im Alltag sind bei vielen Betroffenen tief verwurzelte Erinnerungen noch da. Und so sind auch in vielen der Menschen Glaube und religiöse Rituale tief verankert.
Vertraute Lieder, vertraute Gebete, der vertraute Ablauf eines Gottesdienstes und die Vergewisserung des eigenen Glaubens – „das gibt Sicherheit und Kraft“, sagt Caroline Braun.
Zugang zu Erkrankten durch Erinnerungen finden
„Ganz übergreifend muss sich Seelsorge auf jeden Menschen einstellen, passend auf die jeweilige Zielgruppe“, so die Theologin. „Und so ist bei Personen mit demenziellen Veränderungen meine Aufgabe, einen guten Kontakt zu den Einzelnen aufzubauen; eine gemeinsame Ebene“; das gelte auch allgemein im Umgang mit Demenzerkrankten. Eine ruhige Atmosphäre helfe – und zu verstehen zu versuchen, was die Person empfindet oder was sie sagen möchte. Auch versucht Braun zum Beispiel, durch Erinnerungen und Erfahrungen Zugang zu Erkrankten zu bekommen. Musik, Gerüche oder Gegenstände können dafür Vehikel sein und dazu führen, dass Menschen ins Erzählen kommen.
Und so fragt sie in der Predigt im Gottesdienst die mehr als 100 Gottesdienstbesucher: „Wer von Ihnen ist schon mal gepilgert? Vielleicht nach Lourdes? Oder nach Kevelaer?“ Vor dem Altar stehen Wanderschuhe, ein Rucksack und Sonnencreme. Caroline Braun spricht klar und mit kurzen Sätzen. „Nicht kindlich, aber einfach“, so sei der Austausch mit demenzkranken Menschen bestenfalls. Und sie rät, immer darauf einzugehen, was die Person erzählt oder tut. „Nie in Konfrontation gehen und nicht das Gefühl geben, dass der Mensch etwas falsch gemacht hat – das macht nur unsicher.“
Es gehe doch darum zu vermitteln: Trotz Defiziten gibt es ganz viel, was noch in dir drin ist, was du kannst! „So eine Sicherheit zu erleben, das ist für jeden Menschen schön.“ Beim „Vaterunser“ bleibt fast kein Mund geschlossen. Die meisten in Sankt Jakob beten dieses wichtigste Gebet aller Christen wohl schon seit 70, 80 oder sogar 90 Jahren.
Ich bin jetzt sehr glücklich. Sehr schön war’s.
Anne Steffens
Demenz zählt zu den häufigsten Erkrankungen im höheren Lebensalter. 2022 waren in Deutschland 1,8 Millionen Menschen betroffen. Die Erkrankten sind vielfach Teil einer Generation, für die kirchliches und gesellschaftliches Leben eng verbunden waren. Kirchenchor, Gottesdienstbesuche, Kuchenbacken fürs Gemeindefest: An Kirche hängen für viele ältere Menschen Erinnerungen an Gemeinschaft und Zugehörigkeit genauso wie an wichtige Momente im Leben. Todesfälle, Schützenkönig und die Taufe des eigenen Kindes: Kirche als Teil des Lebens.
Caroline Braun bedauert, dass dies vielen Angehörigen aus jüngeren Generationen anscheinend nicht bewusst ist. Angehörige kämen nur selten mit Demenzerkrankten zu den Gottesdiensten. Stattdessen nähmen Einrichtungen das Angebot gut wahr und brächten die Senioren zur Kirche. Zweimal im Jahr bietet Braun diese Gottesdienste in Aachen an, dieses Mal im Rahmen der Heiligtumsfahrt. Auch an vielen anderen Orten gibt es mittlerweile demenzsensible Gottesdienste, ob evangelisch, katholisch oder ökumenisch. „Gehet hin in Frieden“, sagt der Pfarrer. „Dank sei Gott dem Herrn“ – so endet jeder katholische Gottesdienst.
Caroline Braun spricht von einem „Geländer“, das die bekannte Gottesdienstform den Menschen gebe. Ungewöhnliches bieten demenzsensible Gottesdienste hingegen nicht. Sie setzen auf bekannte Bibelstellen, Gebete und Lieder und einen vertrauten, typischen Rahmen: Glockenläuten, Kirchenraum, liturgische Kleidung. Und: Kurz sollten Gottesdienste für Menschen mit Demenz sein, etwa 20 bis 30 Minuten.
Bei Liedern weiten sich die Augen der Menschen
Zum Auszug spielt die Orgel eines der bekanntesten Marienlieder. Ein Chor singt, viele Menschen singen mit. „Bei Liedern merkt man manchmal richtig, wie sich die Augen der Menschen weiten“, so Caroline Braun. Anne Steffens wird im Rollstuhl aus der Kirche geschoben. „Ich bin jetzt sehr glücklich“, sagt sie. Eigentlich habe sie es nicht mehr so mit Kirche und war lange nicht mehr dort. Aber: „Sehr schön war’s“. – Was ihr besonders gefallen hat? – „Die Gemeinschaft“, sagt die Bewohnerin eines Seniorenheims schnell, die früher in der Nähe der Kirche gewohnt hat; „und die Musik“. Anne Steffens und ihre Begleiterin steuern zu Kaffee und Kuchen ins Gemeindezentrum. Auch das gehört zu den demenzsensiblen Gottesdiensten in Aachen immer dazu.