Die Dorfkinder zeigen stolz und fröhlich ihre Bastelarbeiten.
Die Kinder des Dorfes Nuh basteln mit Schwester Nirmalini und ihren Schülerinnen Papierblumen. Fotos: Fritz Stark/Missio
Schwester Nirmalini Die Pädagogin Schwester Nirmalini macht sich für Nuh stark.

Hoffnung für Nuh dank Nirmalini

In dem kleinen Dorf Nuh in der Nähe von Neu Delhi leben die Menschen in bitterer Armut: ohne eigenes Land, von der Regierung vergessen, ohne Schule. Das wollte Schwester Nirmalini nicht hinnehmen. Die Ordensfrau und Direktorin einer Privatschule in Neu Delhi beschloss: Hier muss etwas passieren.

Von Bettina Tiburzy

Als Schwester Nirmalini im April 2006 das Dorf Nuh zum ersten Mal besuchte, bot sich ihr ein Bild des Elends. Viele Menschen standen kurz vor dem Verhungern. Sie waren unterernährt und krank und völlig sich selbst überlassen. Die Kinder waren verwahrlost. Kein Kind ging zur Schule. „Mein erster Eindruck von dem Dorf verfolgt mich noch heute“, berichtet Schwester Nirmalini. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so eine Welt existiert.“

Denn in einem Viertel, in dem sich die Diplomaten die Klinke in die Hand geben, leitet Schwester Nirmalini Nirmala Nazareth eine private Schule für Mädchen. 1800 Schülerinnen, in der Mehrheit Hindus, aber auch muslimische und christliche Schülerinnen, lernen in der Carmel Convent Schule für ihren Abschluss. Viele ihrer Eltern kommen aus der Mittelschicht Indiens, sind Ingenieure, Anwälte oder Ärzte.

Die Zufahrt ist mit einer Schranke gesichert, der Vorhof ist am frühen Morgen mit Wasser gereinigt worden und der nasse Steinboden blitzt in der Morgensonne. Als der Unterrichtsgong ertönt, eilen die Schülerinnen in ihren roten Pullovern und rosa Pluderhosen in die Klassenräume. Einzig eine groß gewachsene Frau in ockerfarbenem Sari biegt im Eilschritt um die Ecke und verlässt mit vier Schülerinnen und einer Mitarbeiterin im Schlepptau die Schule. Die Mädchen können kaum Schritt halten, als Schwester Nirmalini auf zwei Autos vor dem Schulkomplex zusteuert.

Lehmhütten und Häuser aus Stein in schlechtem Zustand

Die Direktorin begrüßt drei dort wartende Erwachsene, instruiert die Schülerinnen, die mitgebrachten Tüten zu verstauen und mahnt zum Aufbruch. Denn es ist schon nach 8 Uhr, und die Karmeliterschwester will das Ziel der Reise, das Dorf Nuh, möglichst zügig erreichen.

Heute, vier Jahre nach ihrem ersten Besuch im Dorf, ist Nuh eines der Sozialprojekte der Carmel Convent Schule. Eltern, Schüler und Lehrer haben sich bereit erklärt, die Dorfbewohner zu unterstützen. Sie sammeln Geld und Sachspenden, organisieren Lebensmittel und besuchen das Dorf regelmäßig. Schülereltern, die Ärzte sind, haben sich angeschlossen und errichten einmal im Monat eine Tagesklinik in Nuh.

Nach 80 Kilometern verlässt die kleine Kolonne die asphaltierte Straße und biegt auf eine staubige Lehm- und Sandpiste ein. Nuh liegt, umgeben von einigen klei-nen Bergen, nicht weit von der Grenze zum Bundesstaat Rajasthan. 100 Familien leben in der Siedlung. Das sind fast 1000 Menschen. Die meisten von ihnen sind Muslime. Rings um das Dorf arbeiten Menschen auf den Feldern. Doch das Land gehört nicht den Dorfbewohnern, sondern Angehörigen höherer Kasten, die den Ertrag für sich beanspruchen.

Die Autos biegen in das Dorf ein. Lehmhütten säumen die Wege. Die wenigen Häuser aus Stein sind in schlechtem Zustand. Wasserbüffel liegen träge wiederkäuend im Schatten von Bäumen. Als die Autos anhalten, laufen Kinder aus allen Teilen des Dorfes neugierig auf sie zu. Schwester Nirmalini und ihre Begleiter werden von den Dorfbewohnern freudig begrüßt. Die vier Schülerinnen lächeln verlegen. Dies ist ihr erster Besuch in Nuh und alles ist für sie neu und ungewohnt.

Die mitgereiste Ärztin, Mutter einer Schülerin, richtet sich in einem leer stehenden Gebäude ein. Ein Bettgestell aus Holz, bespannt mit Seilen, dient den Patienten als Sitzgelegenheit. Vor dem Haus sammeln sich die Dorfbewohner, die ärztlichen Rat suchen. In der Mehrzahl sind es Frauen mit ihren Kindern.

„Nach unserem ersten Besuch in Nuh war mir klar, dass die Dorfbewohner dringend eine medizinische Versorgung brauchen. Das war das erste, was wir in Angriff nahmen“, sagt Schwester Nirmalini. Eines der größten Probleme am Anfang war die Wasserversorgung. Denn ohne sauberes Wasser kann niemand gesund leben.

Die Menschen sind arm, aber es gibt Fortschritte

Heute gibt es im Dorf einen Brunnen, den Schwester Nirmalini mit ihren Unterstützern bauen ließ. „In den vier Jahren, seitdem wir hierher kommen, hat sich die Gesundheit der Dorfbewohner schon stark verbessert“, erklärt die 44-Jährige. „Sicher ist es noch nicht ausreichend, aber wir sind auf einem guten Weg.“

Doch das Engagement der Schule stößt auch an Grenzen. Eine der Patientinnen berichtet der Ärztin von Übelkeit und Schwächegefühlen. Auf Nachfrage erklärt sie, dass sie Lehm gegessen habe, um das quälende Hungergefühl zu betäuben.

Viele Dorfbewohner haben nicht genug zu essen. Die Familien in Nuh sind sehr kinderreich. Zehn oder zwölf Kinder sind keine Seltenheit. Da das Land nicht den Dorfbewohnern gehört, suchen die Männer von Nuh als Tagelöhner Arbeit auf den Feldern oder sie arbeiten in Rajasthans Steinbrüchen. Ihr dürftiger, unregelmäßiger Lohn von 100 Rupien, 1,70 Euro, am Tag reicht nicht, um eine große Familie zu ernähren.

Unter freiem Himmel haben sich die Kinder vor einem bunten Poster mit dem Alphabet versammelt. Schwester Nirmalini instruiert ihre vier Schülerinnen. Sie sollen die Kinder unterrichten. Für die vier Mädchen ist dies eine ungewohnte Situation. Plötzlich schlüpfen sie in die Lehrerrolle. Verlegen stehen sie vor den Kindern. Schließlich tritt Ayushi einen Schritt vor und fragt die Gruppe in Hindi: „Könnt ihr denn schon buchstabieren?“ „Ja“, antworten die Kinder im Chor. Ge-meinsam mit den Schülerinnen sagen sie das Hindi-Alphabet auf. Dann verteilen Ayushi und ihre Mitschülerinnen Bastelmaterial und zeigen den Kindern, wie man mit Papier eine Blume bastelt. Alle machen sich sofort mit großer Begeisterung ans Werk. Schnell werden die ersten fertigen Blumen in die Höhe gehalten.

Schwester Nirmalini hat sich bei den Schulbehörden dafür eingesetzt, dass die Kinder aus Nuh die Schulgebühr nicht zahlen mussten. Zusammen mit Unterstützern hat sie Schuluniformen und Schulmaterial gekauft. Zurzeit besuchen 44 Kinder aus Nuh die Schule. Damit sie den Anschluss dort schaffen, hat die Carmel Convent Schule einheimische Lehrer aus dem Dorf ausgebildet, die den Kindern von Nuh jetzt helfen, den Anschluss in der Regierungsschule zu schaffen. Schwester Nirmalinis Schule zahlt ihre Gehälter.

Sie hofft, den Kindern helfen zu können. Sie weiß, dass vor allem Bildung aus dem Teufelskreis der Armut herausführen kann. Und auch Ayushi und ihre Schulkameradinnen sollen durch ihr Engagement für andere etwas lernen. „Unsere Schülerinnen sind so privilegiert, was ihre Ausbildung und Zukunftschancen angeht. Sie sollen verstehen, dass es anderswo eine andere Welt gibt, in der Kinder nicht dieselben Chancen haben wie sie“, erklärt Nirmalini. „Und dass sie etwas zur Ausbildung eines anderen Kindes beitragen können.“

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Info

Indien ist eine aufstrebende Nation. Doch die Mehrzahl der Menschen ist vom wirtschaftlichen Erfolg abgeschnitten. Auf dem Land steht die Zeit still. Analphabetentum, Mangelernährung und ein marodes Gesundheitssystem kennzeichnen hier das Leben. Das Kastensystem, das Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Kaste als minderwertig und „unberührbar“ brandmarkt, ist in vielen Bundesstaaten voll intakt. Gewalt und Diskriminierung gegenüber Angehörigen niederer Kasten gehören zum Alltag. Frauen haben es unter diesen Bedingungen besonders schwer. Die Angst vor hohen Mitgiftforderungen treibt Eltern zum Äußersten. Viele Familien geben Jungen bereits im Mutterleib den Vorzug und treiben weibliche Föten ab. Doch auch nach der Geburt erleben viel weniger Mädchen als Jungen das sechste Lebensjahr.

Mit Programmen zur Bildung, Gesundheitsvorsorge und Förderung von Frauen und Mädchen setzen sich indische Ordensschwestern für die Ärmsten der Armen ein. Ihre Botschaft: Unabhängig von Kaste, Religion oder Geschlecht – vor Gott sind alle Menschen gleich.

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BLZ 370 601 93,
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