Zu Ruhe und Besinnung lädt das ausgedehnte Gräberfeld von Cerveteri ein.

Sitzgelegenheiten neben den Gräbern deuten auf Besuche in den Grabkammern hin.

Wo die Toten vom Leben erzählen

Der etruskische Friedhof von Cerveteri

Ein Bildbericht von Eugen Reiter

Die ausgedehnten Schatten der Pinien und Zypressen brechen die flimmernde Mittagshitze. Nur das Gezirpe der Zikaden überlagert die Ruhe. Nichts weist darauf hin, dass nur 40 Kilometer entfernt der Lärm der Millionenstadt Rom tobt. Kaum eine Touristengruppe verirrt sich hierher. Hier in die Friedhofsruhe von Cerveteri, nur wenige Kilometer von der Küste des Thyrennischen Meers entfernt, zieht es nur Kenner und italienische Schulklassen. Dabei täuscht die Friedhofsruhe, denn kaum ein Ort erzählt soviel vom Leben.

„Die Majestät der etruskischen Gräberstädte von Cerveteri hinterlässt bei jedem einen unauslöschlichen Eindruck. Man nimmt nicht die Friedhofsatmosphäre des Ortes wahr, da alles zum Leben bestrebt ist – ebenso wie in einer Stadt“, heisst es in der kleinen Broschüre, die den Rundgang durch die riesige Stadt der Toten begleitet.

Cerveteri, das „alte Caere“, war einst genauso eine Metropole, wie es heute Rom darstellt. Zu Zeiten, als Rom sich anschickte als winziges Dorf auf sumpfumgebenen Hügeln die nähere Umgebung zu erkunden, war hier eine blühende Kultur vorhanden. Zwischen dem achten und dem sechsten Jahrhundert vor Christus war Caere eines der größten Zentren des Volks der Etrusker. Aber auch hier in Caere, typisch für Geschichte und Erforschung der Etrusker, lässt sich nur wenig mit Bestimmtheit sagen. Kaum ein Volk des Mittelmeerraums hat bisher so wenig das Geheimnis seiner Herkunft, seiner Kultur und Lebensweise gelüftet, wie die Etrusker. Mit ein Grund dafür ist, dass die zweifellos vorhandenen schriftlichen Zeugnisse der Etrusker samt und sonders nach ihrer Eroberung durch Rom verschwunden sind und nur indirekt über die Berichterstattung römischer Schriftsteller weitergegeben wurden.

So lässt sich auch hier in Cerveteri Wissen nur aus dem Reich der Toten, aus den Grabmonumenten und den Grabbeigaben ziehen. Die Größe der Totenstädte rund um das antike Caere mit 450 Hektar – 12 Hektar sind zur Besichtigung freigegeben – erlaubt einen Rückschluss auf die Größe der Stadt der Lebenden. Bis zu 80 000 Einwohner kann die Stadt in ihrer Blütezeit im sechsten Jahrhundert gehabt haben. Was an den Grabmonumenten fasziniert ist besonders, dass an ihnen die Entwicklung der Stadt in Architektur und Lebensweise nachvollziehbar ist.

Die ersten Grabfunde stammen aus dem neunten Jahrhundert. Es sind steinerne Urnenbehälter die belegen, dass die Etrusker ursprünglich die Feuerbestattung pflegten. Ab dem achten Jahrhundert entstehen so genannte „Fossagräber“, Mulden in die der intakte Körper gelegt wurde und die mit einer Platte verschlossen wurden. Mit der wachsenden Bedeutung der Stadt und mit zunehmendem Reichtum beginnt man, für die Toten die Häuser der Lebenden nachzubauen. Dabei erleichterte der weiche aber dennoch haltbare Tuffstein der vulkanischen Gegend die Arbeit der Baumeister.

Von den eigentlichen Städten der Etrusker ist nur wenig erhalten. In Caere ist es lediglich ein Torrest und ein kleiner Teil der mächtigen Stadtmauer, dort, wo ein Felshang als natürliche Befestigung mitbenutzt wurde. Die Häuser der Etrusker waren vermutlich aus vergänglichem Material, wie beispielsweise Holz, erbaut. Ein ausgedehnter Ahnen- und Totenkult muss wohl im Zentrum der etruskischen Religion gestanden haben und dazu geführt haben, dass die Grabstätten die Jahrtausende überdauern konnten. An Entwicklung und Ausstattung der Grabhäuser lässt sich das Auf und Ab der Stadtgeschichte nachvollziehen. In der Blütezeit des sechsten Jahrhunderts entstehen die prächtigsten Grabhäuser, reich verziert, bemalt und ausgeschmückt. Reichhaltige Grabbeigaben wie Bronzefiguren, Vasen und Schmuck sind zu finden. Ab dem fünften Jahrhundert gerät die Stadt Caere in die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer, der Niedergang beginnt. Im dritten Jahrhundert gewinnen die Römer Einfluss über das etruskische Herrschaftsgebiet, Caere wird zum Außenposten Roms degradiert. Zur Kaiserzeit wird die Stadt verlassen, neue Städte wie „Ceri“ auf einem sicheren Bergkamm oder „Ladispoli“ an der Meeresküste entstehen.

Auch die Archäologen haben diese reiche Fundstätte erst sehr spät entdeckt. Im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein war Caere vergessen. Erst im Jahr 1834 begannen gezielte Grabungen in der Nekropole, vorrangig mit der Absicht, etruskische Kunstwerke zu finden und zu bergen. Ein großer Teil der berühmten etruskischen Sammlung der vatikanischen Museen, aber auch des Louvre und des Britischen Museums stammen aus Caere. Systematische Grabungen begannen dann im Jahr 1911 und führen bis in die heutige Zeit.

Ein schmaler Abzweig von der Autobahn A12, der alten Via Aurelia, führt hinauf zu dem kleinen Bergstädtchen Cerveteri. Leicht übersieht man das bescheidene Schild in der Ortsmitte, das den Weg zu der „Necropoli Etruska“ weist. Wenige Kilometer über eine holprige Pinienallee führen hinauf zu dem Hügelkammm mit dem Namen „Banditaccia“. Dann und wann sieht man zwischen den Pinienstämmen hindurch das Thyrennische Meer aufblitzen. Rechts und links der Straße zeigen kleine kuppelförmige Hügel, dass der Bereich der Nekropole begonnen hat. Im Eingangshäuschen des zur Besichtigung freigegebenen Parks zeigt eine Karte die enorme Ausdehnung des Gräberfeld. Und dann umfängt den Besucher die geheimnisvolle Ruhe der Grabstätte.

Regelrechte Prachtstraßen, an den ausgefahrenen Spuren im Stein sind noch die Abdrücke der Pferdewagen zu erkennen, führen zwischen den Tumulusgräbern hindurch. Die meisten Gräber haben eine runde Basis, die entweder aufgebaut oder in den Tuffstein hineingemeiselt wurde. Bedeckt wurde die Basis mit Steinblöcken oder -platten über denen dann ein kuppelförmiger Erdhügel aufgeschichtet wurde. Viele dieser Tumulusgräber stehen in Gruppen zusammen, einige beinhalten mehrere Grabkammern und können einen Durchmesser von über dreißig Metern haben. Nur wenige der Grabkammern sind tief in den Erdboden eingelassen, so dass nur die Wölbung über den Erdboden hinausragt. Die meisten ragen hoch hinaus und ihre Kuppen sind mit Gras, Bäumen und Büschen bewachsen.

Der Eingang befindet sich meist am oberen Rand der Basis. Über eine Treppe gelangt man hinunter zu den Grabkammern. Durch einen Vorraum, oft mit steinernen Sitzbänken ausgestattet, gelangt man in die eigentlichen Grabräume. Die üblichen Grablegen sind Ruhebänken nachgebildet. Gräber von Frauen sind mit einem Dreiecksstein am Kopfende gekennzeichnet. Dann und wann sind auch in die Wände Vertiefungen eingehauen, die eine Bestattung in der Wand zulassen. Diese Art von Gräbern sind dann später auch in den römischen Katakomben zu finden.

Oft sind die Grabkammern reichhaltig verziert. Reliefs an den Wänden, Säulen und Kapitelle, Holzbalken nachempfundene Schnitzereien im Stein, Schilder und Stühle und manchmal auch farbenprächtige Ausmalungen. Insgesamt wird vermutet, dass es sich um Nachbildungen der Häuser und Wohnungen der Lebenden handelt. Die meisten der Gräber tragen auch heute den Namen der besonderen Art ihrer Ausstattung. So gibt es beispielsweise den Tumulus der „Löwengemälde“, der „Kapitelle“, der „Schilde“, das „Reliefgrab“ oder das „Grab der Säulen“. Ab dem fünften Jahrhundert werden die Grabstätten karger. Die runde Form weicht einer quadratischen Form, es entstehen größere „Gemeinschaftsgräber“ im Gegensatz zu den ursprünglichen Familiengräber und Ausschmückung und Beigaben werden einfacher. Die Stadt Caere geht ihrem Niedergang entgegen.

Wer aus der dunkeln Grabkammer ins gleissende Licht tritt und durch die stillen Straßen und Wege der Nekropole wandert, sieht schnell vor seinem geistigen Auge das Leben in dieser Totenstadt pulsieren. Wenig ist überliefert über die Bräuche und Sitten der Etrusker. Aber woher kommen die tiefen Wagenspuren im Stein der Straße? Können sie nur von den sicherlich zahlreichen Bestattungen stammen oder erzählen sie vielmehr von häufigen prächtigen Prozessionen und Festen. Dienten die großzügigen Vorräume der Grabkammern tatsächlich nur der Imitation und Ausschmückung, oder dienten sie ausgiebigen Totenmählern zu Ehren der Ahnen. Wir wissen es nicht, aber sicher ist hier der Glaube der Etrusker an ein Leben nach dem Tod bezeugt. Und gerade bei einem Volk, das so sehr noch im Geheimnis der Geschichte versteckt ist, erzählen die Toten um so beredter vom Leben.